Die ehemalige Benediktinerabtei Corvey im Weserbogen bei Höxter startet nach einem fulminanten Jubiläumsjahr anlässlich ihres 1200-jährigen Bestehens mit attraktiven Neuerungen in die Saison. Der Relaunch der Dauerausstellung in den Räumen des Schlosses und die digitalen Angebote zur Entdeckung des karolingischen Westwerks machen das gottgeweihte Leben der Mönche, ihre Erfolge bei der Christianisierung Europas im frühen Mittelalter, ihren Einfluss auf die Entwicklung der Region und ihre großen baukünstlerischen Leistungen im Dienst der Verkündigung fesselnd erlebbar.
Das Weltkulturerbe zeitgemäß, dabei nicht plakativ, sondern spannend und trotzdem würdig in seinem universellen Wert zu erschließen: Dieser Herausforderung hat sich die Katholische Kirchengemeinde St. Stephanus und Vitus gestellt und dem Johanneschor des karolingischen Westwerks ohne Eingriff in die hochsensible Originalsubstanz zu einer atemberaubenden virtuellen Renaissance verholfen. Die kleine Gemeinde verantwortet mit dem Westwerk ein Denkmal von Weltrang. Dieses möchte sie nicht nur bewahren, sondern den Gästen ansprechend und auch mit den Möglichkeiten moderner Technologien erschließen.
So läuten die Mixed-Reality-Erlebnisreisen ins Corvey der Karolingerzeit hinter den ehrwürdigen Klostermauern das digitale Zeitalter ein. „Wir möchten auch jüngere Zielgruppen erreichen und für Corvey begeistern“, betont Standortleiterin Annika Pröbe. Für junge Menschen gehöre Digitalität zum Alltag. Der Fortschritt verpflichte eine Welterbestätte, in der Vermittlung ihres universellen Stellenwerts mit der Zeit zu gehen.
Bei Führungen, zu denen die Gäste ein Tablet in die Hand bekommen, erblüht der Johanneschor nun in seiner ursprünglichen Ausgestaltung virtuell neu. Diese hatte es in sich: Die erhabene Emporenkirche zeigte zu ihrer Erbauungszeit vor mehr als 1000 Jahren ein Feuerwerk aus Formen und Farben. Einige Wandmalereien sind fragmentarisch und stark verblasst erhalten. Auf dem Bildschirm eines Tablets bekommen sie ihre Leuchtkraft zurück. Akanthusranken in den Arkadenbögen des Quadrums erwachen ebenso wie geometrische Formen zu neuer (vormaliger) Imposanz. Vor der Odysseus-Szene unter der Westempore können die Gäste mit einem Fingerstreich auf dem Touchscreen verblasste Konturen „nachzeichnen“ und sich dann auch eigens hinterlegte Bildvorlagen aus der Entstehungszeit anschauen. Und wo das Auge in östlicher Richtung vor der Rückwand der Orgel Halt macht, eröffnet sich auf dem Bildschirm ein sensationeller Blick in den rekonstruierten ersten Kirchbau von 844 – so wie ihn die Könige und Kaiser erlebt haben, die in der Blütezeit des Klosters vom 9. bis ins 12. Jahrhundert in Corvey Hof hielten.
Werkprozesse aus der Zeit vor mehr als 1000 Jahren vollziehen sich vor den Augen der Gäste ebenfalls: Wenn sie das Tablet auf die Sinopien (erhaltene Vorzeichnungen) an den Wänden halten, entstehen aus eingescannten Originalfragmenten die sechs lebensgroßen Stuckfiguren neu. Sie wachten einst über dem Quadrum und tragen bei ihrer virtuellen Rückkehr auch die Farben von damals. Farbreste an den Original-Fragmenten ließen die entsprechenden Rückschlüsse zu.
Möglich wird die digitale Visualisierung der reichen karolingischen Ausstattung des Johanneschores dank einer App, die von Spezialisten des Fraunhofer-Instituts für graphische Datenverarbeitung Darmstadt auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse entwickelt wurde. Die Tablets bekommen die Gäste im Rahmen von Führungen in der Erdgeschosshalle des Westwerks ausgehändigt.
Dauerausstellung im neuen Gewand
In den Räumen des Schlosses entfaltet sich für die Besucherinnen und Besucher „Das Jahrtausend der Mönche – Von der Gründung Corveys bis ins Goldene Zeitalter“. Diesen Titel trägt die Dauerausstellung, die unter der Ägide von Professor Dr. Christoph Stiegemann, dem ehemaligen Direktor des Diözesanmuseums Paderborn, einen fulminanten Relaunch in zeitgemäßer didaktischer Anmutung erfahren hat.
Kostbare Leihgaben der Kirchengemeinde St. Stephanus und Vitus gewähren in Kombination mit digitalen Medien spannende Einblicke in die große Klostergeschichte und zeigen eindrücklich, wie die Ordensmänner von Corvey aus Kultur und Glaubensleben in der Region und weit darüber hinaus geprägt haben. Der Rundgang ist eine Zeitreise von den Anfängen der ersten Kirchengründung in Corvey bis zur neuen Blüte nach dem Dreißigjährigen Krieg: dem goldenen Zeitalter der Fürstäbte, das mit der Säkularisation endete.
Am Beginn der Corveyer Klostergeschichte stehen die Gäste im ehemaligen Kapitelsaal im Erdgeschoss des Ostflügels, wo auch vor dem Relaunch der Ausstellung bereits die früh- und hochmittelalterlichen Objekte, darunter Bauplastik, Abgüsse und archäologische Funde aus der Gründungszeit gezeigt wurden. „Wir haben diese jetzt kontextualisiert“, berichtet Professor Stiegemann. Beispiel: Die 1974/1975 bei Grabungen zum Vorschein gekommenen Fragmente eines Wellenrankenfrieses aus der Zeit vor 844 schmückten die Untergeschossdecke der Scheitelkapelle des Gründungsbaus der Klosterkirche.
Im Kapitelsaal hängt das kostbare Original nicht unter der Decke, sondern wird senkrecht stehend in einer Vitrine präsentiert. Die Ausstellungsmacher haben jetzt eine Lichtdecke für den Raum entworfen, die die umlaufende Rankenmalerei in der ursprünglichen Raum-Situation zeigt und waagerecht von einer vorgelagerten Fachwerkwand abgehängt ist.
Neben großen Fahnen mit Erläuterungen zur Baugeschichte der ersten Klosterkirche gibt es eine Medienstation zur Scheitelkapelle. Diese bietet den Gästen auf einem Touchscreen vertiefende Sachinformationen etwa zu den antiken Vorbildern der Dekorationsmotive der Malerei der Scheitelkapelle.
In vier Räumen im Obergeschoss des Ostflügels, am Äbtegang, erblüht das „Goldene Zeitalter“ – der Neubeginn nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges. Eingangs sind unter anderem die Baugeschichte der barocken Kirche und die Errichtung der neuen Konventsgebäude Thema. 1667 hatte der tatkräftige Administrator Corveys, Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen aus Münster, mit dem Neubau der barocken Abteikirche nach den Plänen des Kapuzinerpaters Polycarp begonnen. Die eher schlichte, in den Formen gotisch anmutende Architektur bot der reichen Barockausstattung Raum. „Nicht statisch für die Ewigkeit, sondern in Bewegung, so will die Raumkunst des Barocks erlebt sein“, führt Professor Stiegemann aus, was ein Drohnenflug durch die Kirche in der Ausstellung eindrücklich unter Beweis stellt.
Ein weiterer Raum ist der Heiligen- und Reliquienverehrung gewidmet. Sie erlebte nach den furchtbaren Verlusten im Dreißigjährigen Krieg einen neuen Aufschwung.
Auch werden kostbare Paramenten- und Goldschmiedearbeiten aus dem Besitz der Kirchengemeinde zu sehen sein. Sie sind mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder aufwändig restauriert worden.
Zum großen Finale zeigt sich der Barock dann in seiner „Überwältigung durch Schau und Klang“. Kostbare restaurierte Messgewänder und Kesselpauken sind Teil der Inszenierung eines barocken Festhochamtes, das den Glauben ganz im Sinne der Zeit nicht nur intellektuell, sondern mit allen Sinnen erfahrbar macht.
Die Saison in Corvey beginnt am Samstag, 23. März. Von diesem Tag an ist die Welterbestätte täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Ein Besuch ist mit und ohne Führung möglich. Buchbar sind Führungen unter der Telefonnummer: 05271/68168.
Weitere Informationen: https://welterbewestwerkcorvey.de