Land der 1000 Lichter – Weihnachten im Erzgebirge
Bedächtig und doch aufgeregt falten die kleinen Hände des Mädchens den großen Karton auf und die mehreren Lagen Seidenpapier auseinander. Ihr großen Augen glitzern, als sie sagt: „Guten Morgen! Hast du gut geschlafen?“ Sanft streicht sie dabei über das weiche, weiße Haar ihres Freundes aus Holz, der sie nun durch die Weihnachtszeit begleiten wird. Es ist ein Nussknacker, der in der Familie Jahr für Jahr an seinem angestammten Platz im Regal steht. Ebenso wie die meisten anderen Räuchermännchen, Bergmänner, Engel, Pyramiden und Weihnachtsleuchter, die traditionell spätestens zum ersten Advent aus ihren Pappkisten geweckt werden. Auf dem Tisch raucht der Räuchermann seine erste Pfeife und der Duft nach Weihrauch verbreitet sich in der ganzen Wohnung. So wie die Stube mit Liebe zum Detail Stück für Stück geschmückt wird, lässt sich erahnen, was das Mädchen so wie viele andere Erzgebirger in den nächsten Wochen umgeben wird: dieses ganz besondere Gefühl von Weihnachten, dass es so nur im Erzgebirge gibt. Das „Männlwecken“ ist dabei eines der Rituale in dieser wunderbaren Zeit, das in den erzgebirgischen Familien von Generation zu Generation weitergegeben wird. Manche behaupten, all das wäre fest in der Genetik der Menschen hier verankert. Ein Anker ist der Nussknacker für das Mädchen schon heute auf jeden Fall, so wie er da steht, bodenständig und fest, begleitet er sie nun mit seinem doch recht grimmigen Blick durch die Advents- und Weihnachtszeit, die bis Lichtmess, am 2. Februar im neuen Jahr, andauern wird.
Rituale sind wichtige Anker im Leben. Für die heutige Zeit voller Unruhe und Schnelllebigkeit mag das noch mehr gelten als je zuvor. Wer einmal zur Weihnachtszeit im Erzgebirge war, weiß, dass hier in der Jahreszeit mit den kürzesten Tagen die meisten Traditionen verwurzelt sind. Viele von ihnen haben ihren Ursprung im Bergbau seit mehr als acht Jahrhunderten. Die wertvollen Funde an Silber und weiteren Erzen machten die Region reich an Schätzen und Traditionen, die bis heute gepflegt werden. Das ist ein Grund, weshalb sich die Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří mit ihren 22 Bestandteilen auf sächsischer und böhmischer Seite seit 2019 mit dem Titel UNESCO Weltererbe schmücken darf. Alljährlich strömen tausende Menschen ins Erzgebirge, um den Zauber des Weihnachtslandes zu erleben. Wer in der abendlichen Dämmerung unterwegs ist, der sieht die Orte in den Tälern und an den Bergen schon von Weitem in hellem Schein funkeln. Man meint, es seien tausende Lichter, die in die Nacht strahlen. Die Erzgebirger stellen Schwibbögen, Weihnachtsberge, Engel und Bergmänner in die Fenster – früher, um den Bergleuten in der dunklen Jahreszeit den Weg heimzuleuchten und heute aus Stolz auf das Erbe und die Tradition, was den Städten und Dörfern einen besonderen Glanz gibt.
Weihnachtsmärkte
Dann, zum ersten Advent beginnen sich auch die großen Pyramiden in den Orten zu drehen. Meistens erzählen die geschnitzten oder gedrechselten Figuren, die auf den Etagen im Kreise laufen, ein Stück der Ortsgeschichte. Ebenfalls beginnen vielerorts von West nach Ost und von Nord nach Süd im Erzgebirge die Weihnachtsmärkte. Im Westen wird in Schneeberg am Samstag des ersten Advents zünftig angelichtelt. Dann erstrahlt die Stadt schon von Weitem wie ein einziger Weihnachtsberg wie aus einem Bilderbuch. Wenn am zweiten Advent tausende Menschen auf den Berg gehen, dann ist Lichtelfest. Es ist ein Fest, das vor Jahrzenten als „Fest der Freude und des Lichtes“ begründet wurde und mit der nächtlichen Bergparade am Sonntag einen Gänsehautmoment schafft. Und auch dann wird man sich wieder bewusst, dass dieses Ritual eine lange Geschichte hat. Der Bergmann sah im Winter kaum die Sonne. Bei Dunkelheit fuhr er ein, bei Dunkelheit kehrte er zurück. Licht war für den Bergmann im dunklen Schacht Symbol des Lebens. Es wurde behütet und sicherte eine glückliche Ausfahrt.
Bereits am Freitag vorm ersten Advent wird unter den Augen hunderter Besucher die Pyramide auf dem Annaberger Weihnachtsmarkt angeschoben. Die geschnitzten Pyramidenfiguren werden sogar lebendig und entführen die Zuschauer gedanklich in die Vergangenheit. Hinter dem Markt lugt die kleine Bergkirche St. Marien heraus, die im Advent ihre Tür öffnet. Wer hindurchschreitet, erlebt in aller Ruhe ein Kleinod, das wohl einmalig auf der Welt ist: die Bergmännische Krippe. Die 32 geschnitzten über einen Meter hohen Figuren zeigen eindrucksvoll, wie eng christlicher Glaube und Bergbau verwoben sind. Immer zum zweiten Advent wird mit einem feierlichen Bergmannsadvent den Bergleuten gedacht.
Kurz vorm ersten Advent beginnt auch in der Bergstadt Marienberg der Budenzauber auf dem Marktplatz. Wer diesen Markt betritt, wird sich schnell seiner unglaublichen Größe bewusst. Eigentlich müsste man das riesige Quadrat, das von imposanten Bürgerhäusern umsäumt wurde, von oben betrachten. Vom Kirchturm St. Marien zum Beispiel. Im Advent lohnt sich der Aufstieg umso mehr: Dann erstrahlt die mathematisch angelegte Stadt in einem einzigen Lichterglanz. Voller Leuchten sind nicht nur die Straßen, sondern vor allem auch die Augen der kleinen und großen Besucher im Spielzeugdorf Seiffen. Hier lädt gleich ein ganzes Dorf zum Weihnachtsbummel ein. Mit mehr als 100 liebevoll gestalteten Geschäften ist das Dorf ein wunderbarer Marktplatz für original erzgebirgisches Kunsthandwerk. Hier haben die Hersteller Heimvorteil und jeder Laden steckt voller weihnachtlicher Magie. Wie einem zauberhaften Wandel durch die Zeit des Bergbaus erscheint einem auch der Besuch des Freiberger Christmarktes. Die liebevoll bergmännisch dekorierten Hütten vor der historischen Kulisse des Obermarktes drücken starke Bindung von Freiberg zum Bergbau deutlich aus.
Ganz gleich ob der kleine gemütliche Adventsmarkt um den Weihnachtsbaum im Dorf oder der große, lautere in der Stadt – eines haben alle Märkte gemeinsam: Bereits von Weitem steigt einem der Duft nach gebrannten Mandeln, deftigen Suppen oder frisch gebackenem Stollen in die Nase. Jeder Adventsmarkt ist ein Erlebnis mit seinem individuellen Charme, das alle Sinne belebt. Manchmal trifft man einen Handwerker, dem man beim Herstellen von Kunstwerken über die Schulter schauen oder sogar selbst Hand anlegen kann. Oder man erhascht, wie unser kleines Mädchen, staunend einen ersten Gruß und ein Lächeln vom natürlich echten Weihnachtsmann. Die Märkte sind Treffpunkt für Menschen aus nah und fern, für Freunde, Familie und Spiegelbild dessen, was im Erzgebirge alles mit Weihnachten verbunden ist. Das Kunsthandwerk spielt dabei eine der größten Rollen und oft wecken die filigranen Engel, Räuchermänner, Nussknacker und Schwibbögen, die in den Buden auf ihre neuen Besitzer warten, schnell Begehrlichkeiten.
Alles kommt vom Bergbau her ….
Und dann gibt es Tage an den Adventen, an denen säumen die Straßen und Gassen viele große und kleine Menschen. Dick eingemummelt in Daunenjacken, Schal und Mütze harren sie dicht an dicht erwartungsvoll aus, bis die die ersten Klänge der Bergmusiker das Näherkommen der Bergparade ankündigen. An manch engerer Gasse bilden die Zuschauer förmlich ein Spalier für die Bergleute, die in ihren schmucken Habits voller Stolz das bergmännische Erbe präsentieren. Es sind die bergmännischen Vereine, die hier zusammenkommen und so ein bedeutendes Stück Tradition zeigen, das inzwischen zum immateriellen Kulturerbe zählt. In ihren Orten sind es die Menschen, die das ganze Jahr über dafür sorgen, das Brauchtum lebendig bleibt und das Erbe an Kinder und Enkel weitergetragen wird. Manche Vereine betreiben ein Besucherbergwerk und öffnen die Türen zu den Stollenmundlöchern, durch welche die Gäste in die spannende Untertagewelt einfahren können. Besonders begehrt sind im Advent die sogenannten Mettenschichten. So heißt die letzte Schicht vor dem Heilig Abend, in denen sich die Bergleute trafen, um gemeinsam für den reichen Segen und ihr Glück zu danken und auch, um ihren verunglückten Bergmännern im Schacht zu gedenken. Heute werden Mettenschichten in abgewandelter Form für Gäste zelebriert. In diesen Momenten spürt man besonders die große Ehrfurcht und Verbundenheit der Erzgebirger mit ihren Vorfahren, die einst mühevoll die Schätze aus dem Berg schürften.
Jeder Ort im Erzgebirge verwandelt sich im Advent zum leuchtenden Weihnachtsberg. Und dennoch hat jeder auch eigene, kleine Rituale oder Kleinode. So gibt es ein Dorf, in dem die meisten Lichter in den Fenstern erst zu Heilig Abend zu leuchten beginnen. In einem anderen reihen sich weihnachtliche Krippen in den Fenstern wie eine Perlenschnur aneinander und führen so vom Tal den Berg hinauf. Manche Stadt scheint überzulaufen an weihnachtlicher Musik, an freudigen Menschen, Konzerten in den Kirchen und Budenzauber – über manchem Dorf liegt der Zauber der Stille, und einzig der Duft nach deftigem Gänsebraten lockt Genießer in den gemütlichen Landgasthof.
Vier Advente bis Heilig Abend – es sind vier Wochen, in denen sich Herzen öffnen und Menschen vom Weihnachtsgefühl mitreißen lassen. Im Erzgebirge ist das ganz leicht – oder anders gesagt: hier kommt keiner an Weihnachten vorbei. Möglichkeiten, die Traditionen der Menschen hier zu erleben, sind enorm. Ganz gleich, ob schon die Jüngsten ihre schwarz gefärbten Hände beim Herstellen von Räucherkerzchen bestaunen, ob man dem Stollenbäcker oder Holzschnitzer über die Schulter schaut oder bei einer winterlichen Wanderung bestenfalls Schnee und tausende Lichter leuchten sieht.
Und dann, am Heilig Abend zieht eine magische Ruhe in die Straßen ein. Nach den Christvespern in den Kirchen gehen die Menschen in ihre Stuben und ihren persönlichen, familiären Ritualen nach. Wenn 18 Uhr die Glocken läuten, kommt vielleicht das Weihnachtsessen Neinerlaa auf den Tisch. Und dann packt auch das kleine Mädchen mit großen Augen ihre Geschenke aus. Erst jetzt beginnt die eigentliche Weihnachtszeit, die im Erzgebirge bis Lichtmess dauert. Dann am 2. Februar, gehen im Erzgebirge die Lichter aus, die Männln, Pyramiden und Schwibbögen werden wieder in ihre Kartons gut verpackt. Das Mädchen nimmt zärtlich den Nussknacker in die Hand, flüstert ein leises „Gute Nacht, schlaf schön“ in dem sicheren Glauben, dass auch das nächste Weihnachten wieder voller verzaubernder Augenblicke sein wird. Denn nach Weihnachten ist im Erzgebirge vor Weihnachten. Und in den Augenblicken, in denen es dem Mädchen langweilig wird oder noch mehr erfahren möchte über ihre Wurzeln in ihrer erzgebirgischen Heimat, hört sie die Geschichten von Tatock an, dem Bergmännlein, das auch viel über die Schätze des Weihnachtslandes zu erzählen weiß.