Vollendetes Mittelalter: Hommage an die Öcher Goldschmiedekunst des 19. Jahrhunderts
Spannende Premiere in der Domschatzkammer: Ab dem 4. September zeigt das Haus in Trägerschaft des Domkapitels erstmals seine Sammlung historistischer Goldschmiedekunst. Der Bestand an kirchlichen Goldschmiedewerken aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert gilt als einer der umfangreichsten und bedeutendsten einer einzelnen Kirche überhaupt. Die Zahl der gezeigten Objekte wird sich im Rahmen der Ausstellung „Mittelalter 2.0 – Goldschmiedekunst des Historismus am Aachener Dom“ verdoppeln: Zu den etwa 120 überwiegend mittelalterlichen Objekten kommen noch einmal fast genauso viele neuzeitliche hinzu.
Vorausgegangen sind Umbauarbeiten im Untergeschoss der Domschatzkammer und wochenlange Vorbereitungen, die mit überraschenden Entdeckungen und Erkenntnissen einhergingen. „Wir waren uns zwar bewusst, dass wir über einen wirklich großen Bestand an historistischen Gegenständen verfügen, aber erst jetzt konnten wir ihn genauer quantifizieren“, berichtet Dr. Birgitta Falk, die Leiterin der Domschatzkammer. „In ihrer Gesamtheit sind diese Objekte noch nie betrachtet worden, dabei ist ihre Qualität und Bedeutung herausragend!“
Fast 80 Prozent der Werke seien von Aachener Goldschmieden angefertigt worden – und das nicht, wie damals schon verbreitet, als aus Katalogen zusammengestellter Massenware im Baukastensystem, sondern tatsächlich mehrheitlich als individuelle Auftragsarbeiten und somit Einzelstücke.
Auf den Kelchen, Messkännchen, Ziborien (Hostienkelchen), Reliquiaren, Kreuzen und Schmuckstücken haben Dr. Birgitta Falk und ihr Team zahlreiche interessante Details gefunden. „Die Frömmigkeit war im 19. Jahrhundert noch eine andere als heute. Die meisten Objekte sind Schenkungen Aachener Bürger, die gut dokumentiert sind. Wir wissen in den meisten Fällen, wer wann welches Objekt in Auftrag gegeben oder dem Marienstift, heute Dom, hat zukommen lassen.“ Das belegen auch individuelle Inschriften auf den liturgischen Geräten, mit denen die Stifter und Mäzene sich gerne verewigen ließen. Viele Objekte sind bis heute in Benutzung.
Inventarisierung lief parallel zu Konservierungsarbeiten
„Wir haben die Sakristei geplündert“, schmunzelt Luke Jonathan Koeppe. Der 23-Jährige hat Restaurierungs- und Konservierungswissenschaft studiert und unter Anleitung des erkrankten Silberschmiedemeisters Lothar Schmitt die Reinigungs- und Restaurierungsarbeiten an den Ausstellungsobjekten vorgenommen. Auch für die Beschriftung und Nummerierung war er federführend zuständig. „Unser mittelalterlicher Bestand ist inventarisiert, aber bei Stücken der Neuzeit und des Barock war das noch nicht erfolgt. Insofern war das jetzt eine hervorragende Gelegenheit, um eine Übersicht zu erstellen.“ Koeppe gerät ins Schwärmen, wenn er von den sakralen Schätzen spricht. „Technisch gesehen ist das vollendetes Mittelalter! Die Goldschmiede im 19. Jahrhundert hatten moderne Hilfsmittel, die es früher nicht gab und somit andere Möglichkeiten. Zudem konnten sie aus einer reichen Menge an Vorbildern schöpfen und neu interpretieren!“
Schon jetzt darf verraten werden, dass das Untergeschoss während der Ausstellung angesichts der Vielzahl an Goldschmiedeobjekten ein bisschen an den Schatz aus Alibabas Räuberhöhle erinnern wird. Doch längst nicht alles ist materiell besonders wertvoll. Die meisten Gegenstände bestehen aus Silber oder Kupfer und sind „nur“ vergoldet. „Manche Objekte haben einen materiellen Wert, der lediglich im zweistelligen Bereich liegt“, berichtet Koeppe. Wirklich wertvoll sei vielmehr die Handwerkskunst, die dahinter stecke. Diesbezüglich ein wahres Meisterwerk ist der inzwischen berühmt gewordene Corona- und Leopardusschrein, 1912 fertig gestellt in der Aachener Werkstatt August Witte. Ihm wird jetzt auch kunstgeschichtlich noch einmal besondere Aufmerksamkeit gewidmet.
Da so viele Stücke ausgestellt werden, ist in den Vitrinen kein Platz für Beschriftungen. Daher soll es ein Infoheft geben, dass interessierten Besuchern die einzelnen Objekte näherbringt. Erstmals wurden die historistischen Ausstellungsobjekte auch professionell fotografiert. Irgendwann soll es einen eigenen Katalog zur Goldschmiedekunst des Historismus am Aachener Dom geben, doch bis dahin muss noch einiges an Forschungsarbeit geleistet werden.
Eine stiefmütterliche behandelte Disziplin in der Kunstgeschichte
Der Historismus ist sonst eine eher stiefmütterlich behandelte Disziplin der Kunstgeschichte. Zu unrecht, findet Dr. Birgitta Falk. Die Kunsthistorikerin gilt als Expertin auf diesem Gebiet. „Im 19. Jahrhundert und bis hinein ins 20. Jahrhundert griff man kunstgeschichtlich und architektonisch gerne auf ältere Stilrichtungen zurück. Herausgekommen sind häufig meisterliche Werke, bei denen verschiedene Stile miteinander kombiniert, alte Handwerkstechniken wiederaufgegriffen und Formen neu interpretiert wurden. Insofern lohnt es sich, jedes einzelne Stück diesbezüglich genau zu analysieren“, schwärmt sie und hofft, dass ihre Begeisterung auch von den Besuchern geteilt wird.
Ein Sondereintritt wird nicht erhoben. Das Heft mit Erläuterungen schläft mit einer Schutzgebühr von zwei Euro zu Buche. „Wir freuen uns darauf, den Aachenern etwas Neues mit Lokalbezug präsentieren zu können. Ein Besuch lohnt sich wirklich. Allein die schiere Masse an Ausstellungsstücken ist atemberaubend!“
Zu sehen sein wird die Ausstellung „Mittelalter 2.0 – Goldschmiedekunst des Historismus am Aachener Dom“ eine ganze Weile: bis zum 19. September 2021.
Weitere Informationen: www.aachenerdom.de